Die Matrix auf dem Teller

Welcher Koch weiß heute noch genau, was er seinen Gästen serviert? Fast jeder verwendet auch Fertigprodukte, die oft mehr E-Nummern enthalten, als man glaubt. Licht ins Dunkel der E-Codes.
November 13, 2015

die Matrix auf dem TellerDa hat es endlich einmal einer gewagt, die Wahrheit zu sagen – und kassierte dafür verbale Schläge. Weil niemand wissen will, dass selbst Starköche wie Tim Mälzer zum Kartoffelpüree aus der Tüte greifen oder sogar in manchen Spitzenküchen für die Suppen Würfel aus dem Riesenpack vom Großhandel verwendet werden. Natürlich redet keiner der Topgastronomen gerne darüber, doch aus ihrem beredten Schweigen und bestimmten Aktionen lässt sich schließen, dass bei weitem nicht alles, was verkocht wird, so frisch angeliefert worden ist, wie es der Gast annimmt.
Nur selten traut sich einer aus der obersten Riege die Wahrheit zu sagen. Wie eben Tim Mälzer, in dessen Kochsendung ja alles schnell gehen muss, oder Torsten Ibers, Küchenchef im feinen Restaurant „Sansibar“, eine der kulinarischen Topadressen auf der Ferieninsel Sylt. Der legte kürzlich offen, dass sogar Maggi, Ketchup, Senf und Brühwürfel zur Fixausstattung in seiner Küche gehören. Die Suppenwürze sei neben Orangensaft, Essig und Öl integraler Bestandteil des Dressings für den grünen Salat, gab er in der Zeitung „Die Welt“ preis. In seiner Shrimpscocktailsauce macht Ketchup den Löwenanteil aus, und der schnell gekochte Rahmwirsing bekommt sein Aroma von ganz normalen Brühwürfeln. Es sei, nicht nur aus Zeitgründen, fast unmöglich, ein ähnliches Aroma selbst zu mixen, argumentiert er. „Man sollte so etwas grundsätzlich nur selbst frisch kochen, wenn das Ergebnis tatsächlich besser schmeckt als das, was ich fertig im Laden bekomme.“ Tief blicken lässt es auch, wenn Lebensmittelgroßhändler über Internet ihre von berühmten Köchen geleiteten Kochkurse bewerben, bei denen lediglich Convenienceprodukte verwendet werden. Köche, die sich dafür hergeben, werden unter dem finanziellen Druck, dem Restaurants ausgesetzt sind, zu den Fertigprodukten greifen.
Eine Einstellung, die zwar nachvollziehbar, aber auch gefährlich ist. Nachvollziehbar deswegen, weil die umfangreichen Speisekarten in Restaurants es nahezu unmöglich machen, immer alle Zutaten frisch griffbereit zu haben und Saucen, Beilagen und Co in den nötigen Mengen in der knappen zur Verfügung stehenden Zeit zuzubereiten. Nachvollziehbar auch deswegen, weil viele Gäste zufrieden sind mit solchen „getarnten Imbissbuden“, wie der unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schreibende Gourmetkritiker Jürgen Dollase solche Restaurants bezeichnet. Aber genau deswegen auch gefährlich. Gefährlich, weil sich die Gäste an den von der Lebensmittelindustrie geschaffenen Glutamatgeschmack der mit reihenweise E-Nummern versehenen Tütensuppen, Einheitssaucen und Standardgewürze gewöhnen. Gefährlich, weil sie dann gar nicht mehr wissen, wie gut knackiges Gemüse und frischer Fisch sind! Gefährlich, weil sie den hinter qualitätsvoller Küche steckenden Aufwand dann nicht mehr zu schätzen wissen! Und schon gar nicht bezahlen wollen. Und nicht zuletzt gefährlich, weil Fertiggerichte, die bloß noch „individuell“ garniert und als „hausgemachte Spezialität“ serviert werden, bloß dem Normgeschmack entsprechen und so unterbinden, dass sich jedes Restaurant ein eigenes Profil erarbeitet.

Ein Brustbild eines Kochs mit schwarzer SonnenbrilleDaran sind vor allem die Lebensmittelzusatzstoffe schuld, die in den Fertigprodukten reichlich vorhanden sind. Auch wenn Lebensmitteltechniker stets beteuern, dass die sich hinter den weit mehr als 300 existierenden E-Nummern verbergenden Stoffe an sich nichts Verwerfliches seien, sind sie bei den Konsumenten ziemlich unbeliebt. Im Internet kursieren Listen mit angeblich krebserregenden Inhaltsstoffen samt E-Nummern, deren Quellen zwar meist zweifelhaft sind oder deren angebliche Verfasser sich davon distanzieren. Sie verdeutlichen aber das Misstrauen der Menschen gegenüber den unaussprechlichen Stoffen, die das Erdbeerjoghurt rosa machen (und in diesem Falle aus Blattläusen gewonnen werden), das Ketchup cremig, die Packerlsuppe sämig und das Tiefkühlbrötchen flaumig.
Noch ernster ist die Sache für die wachsende Zahl von Menschen mit Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten oder Allergien. Für sie kann die Kennzeichnung von Lebensmitteln überlebenswichtig sein. Was beim Einkaufen erlernbar ist, kann sich beim Ausgehen zum Essen zum echten Problem entwickeln. Denn manchmal weiß ja nicht einmal mehr der Küchenchef selbst genau, was er da eigentlich serviert. Falls er sich überhaupt die Mühe antut, die Verpackungen zu studieren, muss er sich durch den Dschungel der E-Codes schlagen und diese nicht nur übersetzen können, sondern auch zu deuten wissen. So kommt es immer wieder zu Fehlern, die Allergiker oder etwa Zöliakiepatienten leidvoll ausbaden müssen. Obwohl sie sich vor dem Essen beim Koch persönlich erkundigt hatten, ob für das Gericht wohl kein Weizenmehl oder was auch immer verwendet wurde. Schnell zeigt der Körper Reaktionen – dabei hatte der Koch nicht einmal gelogen. ER hatte ja kein Mehl verwendet – aber die Industrie weizenhältige Sojasauce für den Suppenwürfel …
Gerade in solchen Fällen nützt es auch wenig, dass in Deutschland Zusatzstoffe auch auf den Speisekarten angegeben werden müssen. Oft sind die Überbegriffe nicht exakt genug, der Gast muss übervorsichtig sein – und unter Umständen die Finger von seinem Wunschgericht lassen, wenn der Koch ihm nicht mit „Hand aufs Herz“ die exakten Inhaltsstoffe aufzählen kann. Immerhin ist Deutschland mit dieser Kennzeichnungspflicht weiter als viele andere EU-Staaten. In Österreich wird man solche Hinweise vergeblich suchen – und wenn sie einmal verzeichnet sein sollten, so ist das bloß auf das Problembewusstsein des Gastgebers zurückzuführen.
Doch es geht ja auch anders, wie ein Blick auf die Speisekarten landauf, landab zeigt. Mit einigem Geschick – und das darf man von guten und selbstbewussten Köchen ja erwarten – kann der preisliche Unterschied relativ gering gehalten werden zwischen Gerichten, die oft ihren Preis nicht wert sind, und jenen, die auf absolut frischen Zutaten basieren. Wozu braucht ein knackfrischer Blattsalat mit gutem Essig und gutem Öl, wie sie Iber in seinem „Sansibar“ auf Sylt ja wohl auch verwenden wird, dann noch einen Schuss Maggi?
Da liegt es doch wohl näher, sich an den Eurotoques zu orientieren, einer gastronomische Vereinigung, deren Mitglieder sich dem Kochen ohne industrielle Fertigprodukte verschrieben haben. Sie stehen für eine gläserne Produktion vom Produzenten bis zum Teller, ohne chemische Düngungsmittel oder Geschmacksverstärker, ohne Fertigprodukte und ohne gentechnisch veränderte Lebensmittel. Dass sich das nicht nur Topköche wie die beiden Gründungsmitglieder Eckart Witzigmann und Paul Bocuse leisten können, beweist, dass sich mittlerweile schon fast 500 Köche der „Back to the Basics“-Bewegung angeschlossen haben.
Freilich muss man nicht gleich ganz so groß aufkochen wie die Eurotoques. Wer Fertigprodukten und anderen industriellen Zutaten eine Absage erteilt und statt Tiefkühlware lieber Gemüse vom Markt holt oder vom Bauern liefern lässt, der weiß wenigstens genau, was er seinen Gästen auf-tischt – und so zweifellos echte Geschmackserlebnisse servieren kann. Auch wenn es mehr Arbeit bedeuten sollte – die Kunden werden es zu schätzen wissen.

Die Black List
Hinter den E-Nummern auf Verpackungen von Lebensmitteln verstecken sich Zusatzstoffe, mit denen die Speisen versetzt wurden, um ihren Geschmack zu verstärken oder zu ergänzen sowie die Eigenschaften (Cremigkeit, Haltbarkeit etc.) zu verändern. Eine Reihe von Zusatzstoffen kann für Allergiker gefährlich sein und Krankheiten wie Neurodermitis, Migräne, Hyperaktivität und sogar Übergewicht auslösen.

Die für Allergiker gefährlichsten Zusatzstoffe und in welchen Produkten sie häufig zu finden sind:

Antioxidationsstoffe
E 310 (Gallate): Kaugummi, Kartoffelprodukte, Suppen, Saucen, salzige Knabber-
erzeugnisse, Kosmetika
E 321 (Butylhydroxytoluol): Frittierfette
E 338 (Phosphate): Schmelzkäse, Fleisch-, Fisch- und Kartoffelprodukte, Backpulver und Backwaren, Cola

Farbstoffe
E 102 (Tartrazin): gelber Farbstoff für Süßwaren, gefährlich für Acetylsalicylsäure-Allergiker (Kreuzallergie)
E 122 (Azorubin): roter Farbstoff in Fertigprodukten, Süßwaren und Getränken
E 123 (Amaranth): rötet Süßwaren

Geschmacksverstärker
E 620 (Glutamat): wird zahlreichen Fertiggerichten und Snacks zugesetzt, ist in den meisten Brühwürfeln und Streuwürzen, in Sojasoße und vor allem in der chinesischen Küche enthalten

Konservierungsstoffe
E 210 bis 219 (Benzoesäuren): findet sich häufig in Saucen, Fischprodukten und Fertiggerichten
E 220 bis 228 (Schwefel- und Sulfidverbindungen): in vielen Trockenfruchtsorten, Fertigsalaten, Obstkonserven, Kartoffelprodukten und Wein
E 250 (Natriumnitrit, Pökelsalz): macht Wurst haltbar und zumindest farblich
appetitlicher (rot)

>> Glutamat
Dauerstreit um das Glutamat

Die Diskussion schwelt ständig und immer wieder flammt sie heftig auf – jene um den Geschmacksverstärker Glutamat. Kritiker schreiben diesem hohe Gefahr zu: Es mache süchtig und laut dem Heidelberger Hirnforscher und Staatsrat Konrad Bayreuther ist Glutamat ein „Nervengift“, das kritische Forscher mit Alzheimer, Epilepsie und Parkinson in Zusammenhang bringen. Anderen Experte zufolge gibt es auch Menschen, die auf Glutamat „überempfindlich reagieren“: Asthmatiker und Personen, die auf sehr hohe Dosen, nüchtern eingenommen, mit Taubheitsgefühl, Kribbeln, Kopfschmerzen oder Übelkeit reagieren.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) ist jedoch nach wie vor davon überzeugt, dass die „rationelle Verwendung von Glutamat für die Allgemeinheit unbedenklich“ sei. Sie stehe „in keinem Widerspruch zu einer gesundheitsbewussten Ernährung“. Ähnlich argumentiert das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). „Bei Einhaltung der Kennzeichnungsvorschriften gebe es keine Bedenken gegen die gelegentliche Verwendung geringer Mengen bei der Zubereitung von Speisen, zumal die Verbindung auch natürlicherweise in Lebensmitteln vorkommt.“.

>> Tipps für Gastronomen

Immer mehr Menschen leiden unter Allergien gegen Lebensmittel oder Zusatzstoffe: Getreidemehl, Milchprodukte, Fruchtzucker, Nüsse und Hühnereier sind nur einige der gängigen Allergene. Für Allergiker ist ein Restaurantbesuch daher immer ein Risiko, dass sie nur selten in Kauf nehmen – stets in der Hoffnung, einen sorgfältigen und verständnisvollen Koch zu finden. Hier ein paar Tipps für Gastronomen:

Warnungen akzeptieren: Nehmen Sie Hinweise von Gästen auf ihre Allergien nicht auf die leichte Schulter. Schon geringe Spuren eines unverträglichen Stoffes machen sich beim Kunden bemerkbar – manchmal zwar erst am nächsten Tag, doch die Wurzel des Übels ist trotzdem leicht auszumachen. Gäste, die trotz der Bitte, auf die jeweiligen Zutaten oder Zusatzstoffe zu verzichten, diese serviert bekommen, fühlen sich hintergangen – und kommen nicht wieder.

Sauberkeit: Achten Sie auch auf die Reinheit der Arbeitsfläche, von Töpfen und anderen Kochutensilien. Schon geringe Mengen Mehlstaub oder Getreideeiweiß, die in ein sonst glutenfreies Gericht gelangen, können einen Sprue-Patienten ein Abendessen ziemlich verleiden.

Frische Zutaten: Verzichten Sie auf Fertigprodukte in der Menüabfolge. Dann wissen Sie ganz genau, welche Zutaten im Essen landen – und können dem Gast kompetent Auskunft geben. Achten Sie auch bei den Kleinigkeiten darauf: Ein Schuss Sojasauce kann schon zu viel sein, eine Brise Glutamat ebenso. Frisches Gemüse, gebratenes, nur mit Salz und Pfeffer gewürztes Fleisch etc. sind für nahezu alle Allergiker unbedenklich – da kann man dan beruhigt Versprechen machen.

Zutatenliste lesen: Wenn Köche schon unbedingt Convenienceprodukte verwenden, sollten sie ganz genau wissen, welche Stoffe in den Fertigprodukten verarbeitet sind. So ist z. B. Soja als Bindemittel in vielen Fertiggerichten enthalten oder in Brühwürfeln Sojasauce, die meist Weizen enthält. Lesen Sie deshalb die Liste der Zutaten immer genau. So wird bei Schokolade häufig darauf hingewiesen, dass sie Spuren von Nüssen enthalten kann.

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