Vom Kopf bis zur Flosse

Vom Fisch möglichst alle Teile zu verwenden, zeugt von Respekt und schmeckt. Also vergesst die Filets und stürzt euch lieber auf Kopf, Sperma und Magen.
November 12, 2015 | Fotos: Helge O. Sommer

Fischinnereien
Auch wenn sich in unseren Breitengraden die Nose-to-tail-Idee immer mehr durchsetzt, scheint das bei Fischen noch lange nicht der Fall zu sein. Ich habe da etwa einen Bekannten, der seinen Fisch in Restaurants gerne zurückschickt, solange dieser ihn noch „ansieht“! Dabei ist es beachtlich, wie viel von den Stromlinienförmigen nicht verarbeitet wird: Beinahe 50 Prozent des kommerziell verarbeiteten Fisches werden als Abfall einfach weggeworfen. Gräten, Rogen, Leber und Samensäcke inkludiert.

Es scheint so, als würde sich unsere Gesellschaft auf Filets stürzen, aber die schmackhaften Innereien weitestgehend ignorieren. Könnte also ein aquatisches Alter Ego von Fergus Henderson Ähnliches bewirken wie der britische Innereien-Guru in den 90er-Jahren mit Fleisch? Sein 2-Sterne-Kollege Michel Roux Jr. vom Londoner Res­taurant Le Gavroche etwa ist bereits Feuer und Flamme: „Bei uns in Frankreich sind Fischinnereien schon lange wieder en vogue. Ich persönlich liebe Dorschleber und verwende auch Dorschzunge und Rachen.“ Auch die Leber wird in unseren Breitengraden meist weggeworfen. Dabei gilt sie unter heimischen Vorreitern als Foie gras des Meeres. Wer etwa schon einmal bei Lukas Nagl vom Restaurant Bootshaus am Traunsee die Leber der Aalrutte probiert hat, weiß, welche atemberaubende Spezialität das sein kann. Da lässt man gerne jede Gänseleber stehen.

Internationaler Dauerbrenner

Seeteufelleber ist etwa auch in Island oder Spanien der absolute Renner und hat selbst in Japan als „ankimo“ eine lange Tradition. Generell scheint der Rest der Welt die bei uns unüblichen Fischteile zu lieben: Die festen, rauen Kabeljauzungen sind vor allem in Skandinavien eine Delikatesse und eignen sich am besten zum Braten oder Frittieren. In Portugal ist Fischkopfsuppe ein Nationalgericht und in Indien macht man aus den stromlinienförmigen Häuptern leckere Currys. In Asien wird sowieso jeder noch so kleinste Teil verwertet: Da werden Fischlippen in einer Sauce geschmort oder die Haut frittiert und als Beilage serviert.

Fischinnereien-Freak Matt Orlando hat in seinem Res­taurant Amass in Kopenhagen wirklich jeden Teil der aquatischen Leckerbissen auf der Karte: „Wir verarbeiten etwa vom Kabeljau Milchner, Rogen, Rachen, Lippen, Backen, Haut, Leber, Schuppen und Stirnfleisch.“ Auch einige Arten von Fischflossen schmecken laut Orlando frittiert exzellent, wenn man sie anschließend noch in spezielle Marinaden taucht. Dafür eignen sich aber nicht alle Arten. Es gehe eben immer darum, so viel wie möglich zu experimentieren. „Selbst die Augen vom Fisch schmecken köstlich. Natürlich gibt es immer wieder einmal Vorbehalte von den Gästen. Insbesondere beim Fischsperma. Aber wir erklären das dann und nach einem Biss sind sie schon Fans. Es gab bis dato, glaub ich, nur einen Tisch, der das komplett verweigert hat“, schildert Orlando die Rezeption zu seinen kulinarischen Ausflügen ins Fischinnere.

Samen gehört dabei zu seinen Fisch-Favourites: „Er schmeckt überhaupt nicht wie der Fisch selbst und ist extrem lecker. Wir pökeln ihn zuerst, um ihn zu reinigen, tauchen ihn in Buchweizen und rösten ihn, bis er schön knusprig wird. Dann umwickeln wir ihn mit Senfblättern und servieren ihn mit eingelegten Holunderbeeren. Die Gäste dippen ihn dann in einer Emulsion von angebranntem Kohl.“  Auch Multigastronom und 2-Sterne-Koch Tim Raue schwört auf die Qualitäten von Fischinnereien, insbesondere fisch maw. Bereits vor Jahren hat er auf einem Trip nach Hongkong die Schwimmblase für sich entdeckt. Für Chinesen ein ganz wichtiges Teil. Sie definiert, dass Fisch binnen sieben Minuten gegessen werden muss.
Selbst die Augen vom Fisch schmecken köstlich.
Amass-Küchenchef Matt Orlando

Um die Frische des Fisches zu veranschaulichen, zeigt man, dass die Schwimmblase noch prall mit Luft gefüllt ist. Für Chinesen ist das deswegen so wichtig, weil sie glauben, dass der Inhalt der Schwimmblase direkt auf sie übergeht. Es geht darum, die Balance zu finden und durch die Schwimmblase zu erhalten. „Sie ist von der Textur her vergleichbar mit Schweinsmaske oder Öhrchen und hat etwas Gallertartiges. Wir machen daraus ein Ragout in der Idee eines chinesischen Wokgerichts“, verdeutlicht Raue seine Erfahrungen mit fish maw. Aromatisch ist sie weitestgehend geschmacksneutral, doch liegt die größte Stärke der Blase darin, den Geschmack anderer Gerichtekomponenten perfekt aufzunehmen. In Europa ist fish maw nur in getrockneter Form zu bekommen. Für die Zubereitung der edlen Blase sollte man jedenfalls keine Eile haben, denn getrocknete Schwimmblase muss vor dem Verarbeiten zwei Mal aufgekocht werden und nach jedem Aufkochen etwa zwölf Stunden durchziehen.

Unglaubliche Vielfalt

Auch die muskulösen, zart aromatischen Fischbäckchen gelten als echte Delikatesse. In gekochtem Zustand lassen sich die Backen ganz leicht auslösen, im Rohzustand verarbeitet man sie am besten gemeinsam mit allen anderen Kopfteilen und Karkassen zu einem würzigen Fond. Besonders begehrte Fischkopf-Lieferanten sind Seezunge, Steinbutt, Zander, Barsch und Hecht. Auch das Fischherz hat durchaus seine Aufmerksamkeit verdient. In der Tierwelt gilt es übrigens als eines der am einfachsten aufgebauten, da es nur aus einem Vorhof und einer Herzkammer besteht. In Asien wird es mancherorts noch roh verzehrt, hierzulande läuft es im Fischbeuschel zu kulinarischer Hochform auf.  Auch Innereien-Guru Max Stiegl vom Gut Purbach kann dem Innenleben der Fische viel abgewinnen: „Wir machen selbst Bottarga von Zanderrogen. Die Hechtleberpraline mit Schokolade und Aronia ist mittlerweile ein Klassiker bei uns und Seeteufel- sowie Trüschenleber sind für mich sowieso die beiden interessantesten Fischinnereien.“ Dass die Innereien auch roh etwas hermachen, kann Stiegl nur bestätigen: „Die Blase wird in sehr vielen Ländern roh gegessen und auch die Inuit essen Leber gerne frisch, direkt nach dem Fang.“

Fakt ist jedoch: Innereien sind nicht jedermanns Sache. Foodies schätzen ihren zarten Geschmack und die Vielfalt an grandiosen Gerichten, die sich durch ihre kulinarische Bandbreite eröffnen. Ebenso nicht unterschätzen sollte man ihren Nährstoff- und Vitamingehalt. Sie liefern außerdem so einiges an wertvollen Mineralstoffen und sind großteils fettarm. Von der aromatischen Größe einmal ganz abgesehen.   Und dass auch Fischmagen ziemlich groß sein kann, erzählt Max Stiegl mit einem ironischen Schmunzeln im Gesicht: „Da gibt es die Geschichte eines norwegischen Fischers, der ein Sexspielzeug im Magen eines Fisches fand.“ Der Fischer vermutet, dass der Kabeljau den ungefähr 15 Zentimeter langen Dildo mit einem Kalmar verwechselt hat und deshalb fraß. Geschmacklos? Vielleicht, aber man findet im Fischinneren bestimmt vibrierendere Highlights als so eine Brummgurke.

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