Schnecken sind eine Delikatesse. Sind sie auch die Proteinquelle der Zukunft?

Während die halbe Welt unter den ­Insekten dieser Welt nach Protein-­Alternativen sucht, schleicht sich ausgerechnet aus der Delikatessenecke eine Überraschung an: Schnecken sind drauf und dran, die Rolle des Gamechangers zu übernehmen. Der Wiener Schneckenpionier Andreas Gugumuck schafft dafür gerade die Grundlagen.
April 25, 2024 | Text: Johannes Stühlinger | Fotos: Shutterstock, www.gugumuck.at, iStockfoto

Wir schreiben das Jahr 1815. In Wien geben sich die Staatsoberhäupter nicht nur das Zepter, sondern auch die Kochlöffel in die Hand. Schließlich wollen Minister, Präsidenten und Kaiser nicht nur politisieren, sondern auch fein schmausen. Und so kommt es, dass der französische Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord eines Abends den verhassten russischen Zaren Alexander I. als Gast begrüßen muss. Sein Plan: Das Gegenüber mit dem Armeleute-Essen der Wiener, und zwar den Schnecken, zu demütigen.

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Schnecken brauchen um 85 Prozent weniger Futter als Rinder, um ein Kilogramm Muskel­fleisch zu erzeugen. Macht sie das zum ultimativen Superfood für unseren Planeten?

Wir schreiben das Jahr 1815. In Wien geben sich die Staatsoberhäupter nicht nur das Zepter, sondern auch die Kochlöffel in die Hand. Schließlich wollen Minister, Präsidenten und Kaiser nicht nur politisieren, sondern auch fein schmausen. Und so kommt es, dass der französische Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord eines Abends den verhassten russischen Zaren Alexander I. als Gast begrüßen muss. Sein Plan: Das Gegenüber mit dem Armeleute-Essen der Wiener, und zwar den Schnecken, zu demütigen.

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Schnecken brauchen um 85 Prozent weniger Futter als Rinder, um ein Kilogramm Muskel­fleisch zu erzeugen. Macht sie das zum ultimativen Superfood für unseren Planeten?

Allein, der Leibkoch des Franzosen war damals quasi der Paul Bocuse des 19. Jahrhunderts – der große Marie-Antoine Carême. Long story short: Die Schnecken gelangen so gut, dass der Zar sie als Delikatesse verstand und das Missverständnis tiefgreifende Auswirkungen hatte: Seit damals gelten Schnecken als fixer Bestandteil der französischen Spitzenküche.

Ganz aus dem Häuschen

Diese Geschichte erzählt Andreas Gugumuck nur zu gerne. Schließlich belegt sie, dass die Wiege des Schneckenkonsums eigentlich in Wien liegt. Dort, wo er heute auf seinem 300 Jahre alten Familienhof auf über 2.000 Quadratmetern jährlich 300.000 Schnecken züchtet. Um einerseits die Gelüste der Gourmets zu befriedigen – und andererseits den Weg in eine Zukunft zu ebnen, in der das Fleisch von Säugetieren nur noch einen geringen Stellenwert in unserer Gesellschaft einnehmen soll. Und so rechnet der passionierte Pionier vor: Schnecken brauchen um 85 Prozent weniger Futter als etwa Rinder, um ein Kilogramm Muskelfleisch zu erzeugen.

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Andreas Gugumuck beim Füttern seiner Weinbergschnecken in Wien

Eines, das außerdem noch mehr Protein enthalte als Filet und Rib­eye. Auch im Vergleich zur Insektenzucht haben seinen Überlegungen nach die natürlichen Feinde der Farmer und Gärtner wesentliche Vorteile zu bieten: „Für die Insektenzucht brauchst du Wärme, du brauchst Filter, musst sauber arbeiten und viele kleine Details beachten. Unsere Schnecken leben einfach unter freiem Himmel und werden gefüttert, das war’s.“

Der einzige limitierende Faktor ist laut Gugumuck die Handarbeit, die in dem vielleicht langsamsten Slow Food der Welt steckt. Wie also werden Schnecken wirklich gezüchtet? Wie verarbeitet? Und was fressen die kleinen Proteinlieferanten der Zukunft überhaupt besonders gern?

Schneckenfutter aus dem eigenen Garten

Eines gleich vorweg: So richtig mästen kann man Schnecken nicht wirklich. Aber der einstige Test- & Qualitäts­manager hat herausgefunden, wie er den Appetit der häuslichen Tiere maximal befriedigen kann: „Wir pflanzen in der richtigen Reihenfolge die Lieblingspflanzen der Schnecken“, sagt er. Also wird am Schneckenfeld erst einmal Senf, Klee und Raps angebaut und später werden ungefähr 300, eigens vorgezogene, Mangoldpflänzchen eingepflanzt.

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Eine Schnecke legt ungefähr 50 Eier. Ein Teil davon wird vom Züchter als Delikatesse verkauft – als Schneckenkaviar

Ergänzt wird das Ganze durch Suppengrünabschnitte der regionalen Suppengrünbauern. Dabei kann man die Schnecken auch schmatzen hören. „Außerdem füttern wir Kalk zu, da das Tier bei dieser Fütterung sonst schneller wachsen würde als sein Schneckenhaus.“ Erntezeit – wie es im Fachjargon heißt – ist dann im Herbst, bis in den November hinein. Da werden die Tiere einzeln und mit der Hand von den Feldern geklaubt und für zwei Wochen in Kisten im dunklen Keller verräumt. „In dieser Zeit entleeren sie ihren Darm und bilden eine papierene Membran, die sie vor dem Austrocknen und Kälte schützt“, schildert Gugumuck, ehe er ausholt: „Jetzt kommt dann das Thema Ethik ins Spiel …!“ Denn in eben diesem Zustand werden die Tiere dann zehn Minuten lang blanchiert – also getötet.

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Nachdem Schnecken wenig Platz brauchen, kann Gugumuck auf nur 2.000 Quadratmetern 300.000 Stück gleichzeitig züchten.

Gugumuck relativiert schnell in Richtung Tierschützer: „Im Gegensatz zu Krebsen oder Hummern sind die Schnecken natürlich in Trocken­starre, also im Tiefschlaf.“ Nun geht der Prozess weiter – der Eingeweidesack wird abgetrennt und übrig bleiben ungefähr fünf Gramm feinstes Schneckenfleisch, das noch vier Stunden in einem speziellen Sud gekocht wird, ehe es für unterschiedliche Gerichte und Vorhaben weiterverarbeitet werden kann. 

Schneckenkaviar ist das Gelbe vom Ei

Noch mehr Arbeit beschert dem Züchter allerdings die exklusivste Delikatesse, die seine Tierchen hergeben: Schneckenkaviar. So landen nämlich nicht alle Tiere im Kochtopf – die größten der Zwitterwesen werden als Muttertiere aufgehoben und im Mai des nächsten Jahres zum Paaren animiert. „Jede Schnecke legt dann 50 bis 100 Eier in Sandmulden“, erzählt der Fachmann. Ein Teil der Eier ergibt die nächste Generation Schneckengenuss, der andere wird mit Siebchen und Pinzetten einzeln gesammelt, gewaschen und schließlich als ultimativer Gaumenschmaus verkauft. Ähnlich arbeitsintensiv ist das dritte Produkt, das Gugumuck seinen Tieren entlockt: Schneckenleber. Diese befindet sich ganz oben im Schneckenhaus des Tiers, muss feinsäuberlich in Handarbeit mit der Pinzette geborgen werden und liefert einen Geschmack, den Leberliebhaber lieben. Andere wohl eher weniger.

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Solche Stachelschnecken werden in Italien als Cornetti di Mare serviert. Sie gehören zur größten Schneckenfamilie, jener der Muricidae, der 1.600 Arten zugeordnet werden

Welche Schnecken schmecken?

Andreas Gugumuck befasst sich auf seiner Kriechtierfarm mit drei Arten von Weinbergschnecken. Die klassische Weinbergschnecke, die gefleckte und eine größere Verwandte, wobei die letzteren zwei eigentlich aus dem Mittelmeerraum stammen und hierzulande nicht heimisch sind. „Sie unterscheiden sich fein im Geschmack, sind aber die aus kulinarischer Sicht ­spannend­sten“, sagt er. Genießbar hingegen sind im Grunde alle Schnecken, die eine Behausung mit sich herumtragen. Hierbei findet man international die unterschiedlichsten Arten und Schneckengerichte.

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Die Gemeine Strandschnecke wird in Frankreich meist mit Kräuterbutter serviert. Sie ist auch in Großbritannien als schmackhaftes Essen bekannt – heißt hier allerdings Periwinkle.

Die auffälligste allerdings ist gewiss die Achatschnecke. Sie kann bis zu 30 Zentimeter lang werden, vermehrt sich schnell und frisst alles, was sie findet. Laut Gugumuck allerdings eine Art, die nicht nur viele Krankheiten überträgt, sondern auch alles andere als ein Leckerbissen ist. So habe der große Paul Bocuse gar einmal gesagt, eine Weinbergschnecke mit einer Achatschnecke zu vergleichen, sei so wie der Vergleich von einem Angusrind mit einem Autoreifen. Im Gegensatz dazu sind so manche Meeresschnecken wiederum von außergewöhnlicher Geschmacksqualität. Auf Madeira und den Azoren wird etwa aus Napfschnecken das traditionelle Gericht „Lapas“ zubereitet. In Brüssel serviert man die „Caricoles“ als Meerschneckensuppe und in Frankreich werden die gemeinen Strandschnecken in Salzwasser gekocht, auf Spießchen als Horsd’œuvre mit Kräuterbutter oder naturell serviert – ein paar Kilometer nördlich, auf den Britischen Inseln, heißen sie Periwinkles. Ebenfalls beliebt sind in der Schale gekochte Wellhornschnecken oder – in Italien etwa – sogenannte cornetti di mare (Stachelschnecken oder Herkuleskeulen). Abgesehen davon lässt sich allerdings auch eines klar sagen: Nacktschnecken sind generell ungenießbar oder sogar giftig. „Sie haben kein Gehäuse und müssen sich somit anders schützen“, erläutert Andreas Gugumuck.

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Diese Art Rapana-Schnecken steht vor allem in Thailand auf den Speisekarten und wird auf Märkten überall angeboten.

Wie gesund ist Schneckenfleisch?

Alle essbaren Arten aber sind nicht nur meist ein Genuss für den Gaumen, sondern auch für unseren Körper. Laut Ernährungsforschern ist Schneckenfleisch kalorienarm und gleichzeitig reich an Nährstoffen. Es enthält nur wenig ungesundes Fett, liefert aber viele Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren. Schnecken enthalten mehr Protein als Tofu, dazu Mineralien und Spurenelemente wie Kalium, Natrium, Magnesium, Eisen und Zink. Zudem sind sie reich an B-Vitaminen, auch Vitamin C und Folsäure findet sich in beträchtlichem Ausmaß. Auch das Schilddrüsenhormon T3 (Trijodthyronin) ist in diesem besonderen Fleisch enthalten – womit ausgerechnet die Schnecke dabei hilft, dass Sportler Spitzenleistungen abrufen können, denn genau sie brauchen T3 besonders.

All diese unterschiedlichen Bausteine bilden laut Gugumuck die Basis für Fleischgerichte der Zukunft, die nicht nur für die Umwelt, sondern auch für uns Menschen bekömmlich sind. Bleibt somit zu hoffen, dass sich dieser Umstand in unserer Gesellschaft möglichst rasch he­rumspricht – und nicht bloß im Schneckentempo.

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Kleine Schneckenkunde

Auch wenn wir in der Regel Schnecken mit Frankreich assoziieren, haben sie eine mindestens ebenso lange Tradition in Wien. Sie wurden in allen Gesellschaftsschichten gegessen, galten aber vor allem als Armeleute-Nahrungsmittel und als Fastenspeise. Im 18. Jahrhundert gab es sogar einen eigenen Schneckenmarkt hinter der Peterskirche im ersten Wiener Gemeindebezirk. Standlerinnen – sogenannte „Schneckenweiber“ – boten hier ihre Schnecken als „Wiener Auster“ in zahlreichen Variationen an. Nun erlebt die Schnecke nicht nur ein Comeback, sie könnte zukunftsweisend sein.

Wiener Schneckenmanufaktur

gugumuck.com

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