Marc Haeberlin: Der letzte seiner Art
Beginnen wir mit einer Binsenweisheit: Ohne die Familie Haeberlin wäre die Geschichte der französischen Küche eine andere. Eine um viele Facetten ärmere, denn ihr Restaurant, die „Auberge de l’Ill“, hat der Heimat der Nouvelle Cuisine Klassiker wie die „Frosch-Mousseline“ oder den legendären „Soufflierten Lachs“ beschert.

Beginnen wir mit einer Binsenweisheit: Ohne die Familie Haeberlin wäre die Geschichte der französischen Küche eine andere. Eine um viele Facetten ärmere, denn ihr Restaurant, die „Auberge de l’Ill“, hat der Heimat der Nouvelle Cuisine Klassiker wie die „Frosch-Mousseline“ oder den legendären „Soufflierten Lachs“ beschert.

Gerichte also, die die elsässische Küche erstmals ins internationale Rampenlicht rückten – und bis heute das Bild französischer Hochkulinarik prägen. Und nun kommen wir zu einer etwas weniger bekannten Tatsache: Ohne die Familie Haeberlin wäre auch die Geschichte der deutschen Küche eine andere. Ja, eigentlich der Küche im gesamten deutschsprachigen Raum.
Das liegt nicht nur, aber auch, daran, dass in der „Auberge de l’Ill“ neben Französisch immer schon Deutsch gesprochen wurde. „Wir sind einen Katzensprung von der deutschen Grenze entfernt, die Hemmschwelle für viele junge Köche aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz war damit niedriger als beispielsweise bei Paul Bocuse in Lyon oder den Gebrüdern Troisgros landeinwärts“, sagt Marc Haeberlin.
Der heute 70-Jährige gilt als Schlüsselfigur der französischen Hochküche und ist als solche einer der letzten, die bis heute Tag für Tag in der Küche stehen. 43 Jahre hielt die „Auberge de l’Ill“ unter seiner Leitung drei Michelin-Sterne, Marcs Vater Paul hatte die drei Sterne 1967 erkocht.
Damit strahlten die drei Macarons ganze 52 Jahre über dem Haus. Dass es seit 2019 den dritten Stern verloren hat, scheint seiner Strahlkraft keinen Abbruch getan zu haben. Man könnte so weit gehen und sagen: im Gegenteil.
Die Esskultur, wie sie in der „Auberge de l’Ill“ verstanden und gelebt wird, könnte heute zeitgemäßer nicht sein. „Die großen Klassiker feiern ein Comeback, wie es scheint“, sagt Haeberlin. Sein Tonfall ist gesetzt. Aus ihm spricht jahrzehntelange Erfahrung, ein untrüglicher Sinn fürs Zyklische – und die Gewissheit, dass ein über fünf Generation gewachsenes Handwerk kein Ablaufdatum haben kann.
Die lange Geschichte der „Auberge de l’Ill“ ist auch die seine – und wie die vier Generationen davor schreibt auch er sie mit seiner eigenen, erstaunlich unerschrockenen Handschrift weiter.
Von Bomben und einem grünen Baum
Besagte Geschichte beginnt vor über 140 Jahren. Das kleine Landgasthaus, das die Familie Haeberlin im verschlafenen Illhaeusern 1882 eröffnete, hieß „l’Arbre vert“, weil ein großer grüner Baum direkt davor stand – und weil es in ländlichen Regionen üblich war, Wirtshäuser nach auffälligen Naturmerkmalen zu benennen.
Es setzte zwar auf bodenständigere Gerichte als später die „Auberge“: Doch die typisch elsässische Matelote – ein Süßwasserfisch-Eintopf mit Riesling –, die Fischfriture oder die unterschiedlichen Obstkuchen zogen schon damals Menschen von weit außerhalb des 600-Seelen-Dorfs an. Hinter dem Herd stand Marc Haeberlins Urgroßmutter, ein anderer Teil der Familie führte eine angrenzende Landwirtschaft.

In diesem Mikrokosmos aus Bauernhof und Landgasthaus wuchsen Marcs Vater Paul und sein Onkel Jean-Pierre heran. Beide sollten aus Illhaeusern eine kulinarische Pilgerstätte machen – Paul als Koch, Jean-Pierre als schillernder Gastgeber. Davor aber galt es, die turbulenten Jahre während des Zweiten Weltkriegs zu überstehen.
Das Elsass als deutsch-französischer Grenzraum war besonders umkämpft. „Der Krieg riss ganze Familien auseinander“, sagt Haeberlin. Nicht selten mussten Brüder oder Cousins für die jeweils andere Armee an die Front. „Mein Vater schaffte es, sich den französischen Streitkräften anzuschließen, mein Onkel hingegen musste gegen seinen Willen für Nazi-Deutschland in den Krieg“, erklärt Haeberlin.
Beide überlebten. Das „l‘Arbre Vert“ hingegen wurde in den letzten Kriegswochen durch Bombardierungen in Schutt und Asche gelegt.
Wieder zu Hause als gestandener Koch
Die Familie Haeberlin beschloss, am selben Ort einen neuen Betrieb aufzubauen. Und weil auch der grüne Baum zerstört worden war, trug der Neubau den Namen „Auberge de l’Ill“, also „Gasthaus an der Ill“. Die Ill ist der Fluss, auf den man bis heute einen idyllischen Blick vom Gastgarten des Restaurants hat.

Was die „Auberge“ werden sollte, war Paul und seinem Bruder von Anfang an klar: ein Haus großer Esskultur, wie sie in ihren Lehr- und Wanderjahren so viele kennengelernt hatten. Dann ging’s Schlag auf Schlag: 1952 erkochte Paul den ersten Stern, 1957 den zweiten – und zehn Jahre später schließlich den dritten. Mittendrin in dieser Aufbruchszeit: der kleine Marc, Jahrgang 1954.
Er selbst half schon als Kind fleißig mit, begegnete den vielen Köchen, die sich bei Papa Paul das Rüstzeug holten, um später selbst zu den Großen zu gehören: Der Elsässer Jean-Georges Vongerichten etwa, der in den 1990ern in New York sein eigenes Restaurant im Trump Tower eröffnen sollte, das dann jahrelang mit drei Sternen ausgezeichnet wurde.
Oder der spätere Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann, der mit dem Tantris in München und schließlich seinem eigenen Restaurant in der Prinzregentenstadt, der „Aubergine“, das sogenannte „deutsche Küchenwunder“ lostrat und zum ersten Mal drei Michelin-Sterne nach Deutschland holte.
Beide betonen, wie elementar ihre Zeit bei den Haeberlins war, Witzigmann sieht sie gar als die „prägendste Station“ seines Lebens. Ein paar Jahre nach Witzigmanns Zeit in Illhaeusern zog es auch den jungen Marc zu den großen Restaurants dieser Zeit: zu den Gebrüdern Troisgros, zu Paul Bocuse, zu Gaston Lenôtre. Kein Wunder, dass Marc als gereifter Koch zurück nach Illhaeusern kam.
Die Familie als Ruhepol
„Den einen Moment, in dem ich die Küche von meinem Vater übernommen habe, gab es nicht. Es war ein fließender Übergang, irgendwann Ende der 70er-Jahre“, sagt Haeberlin.
In den folgenden Jahrzehnten gelang ihm eine beeindruckende Verschmelzung zwischen der zeitgemäßen Zelebration der Klassiker seines Vaters und kühnen Kreationen aus eigener Hand – nicht selten mit dem einen oder anderen asiatischen Einfluss: Gerichte wie der knusprige Aal mit Sake‑Wasabi-Schaum oder der gebratene Steinbutt mit Gemüsesaft, Tee und Austern-Frühlingsrolle stehen sinnbildlich für sein subtiles Händchen für asiatische Aromen.
Und auch als Unternehmer wagte Marc Haeberlin den Blick gen den fernen Osten – wohl wissend, dass die „Auberge“ das Zeug zur Marke hat: 2007 eröffnete er eine Dependance im 42. Stock des Toyota-Turms in Nagoya, ein Jahr später eine weitere in einer Stadtvilla in Tokio, und 2014 schließlich eine in Sapporo.
Ich will weiterhin von früh bis spät in der Küche stehen.
Expansionen hin oder her: Für Marc Haeberlin liegt die Erfüllung auch nach über 50 Jahren hinter dem Herd
„Im nahegelegenen Ribeauvillé werden wir außerdem bald ein neues Hotel eröffnen, das Clos Saint-Vincent, das mit Spa, Pool und Restaurant ein Fünf-Sterne-Hotelbetrieb werden soll“, so Haeberlin über das neue Megaprojekt, in das über 21 Millionen Euro investiert wurden.
Auch in der „Auberge“ hat die Familie in einen neuen Spa-Bereich investiert, und in Strassburg führt Haeberlin die erfolgreiche Brasserie „Le Haras“.
Verzettelt er sich mit all diesen Projekten nicht? „Nein, ich kann auf die ganze Familie und meine Kinder Xavier, Laetitia und Maxime bauen, die alle ganz genau wissen, was sie tun“, sagt er. „Damit kann ich das machen, was mich weiterhin am glücklichsten macht: jeden Tag in der Küche stehen. Von früh bis spät.“

