Die Glutamat-Lüge: Warum sich der MSG-Mythos nicht mehr lange halten wird

Warum fast alles, was wir über Glutamat zu wissen glauben, nichts mit der Wahrheit zu tun hat.
Oktober 16, 2025 | Text: Lucas Palm | Fotos: Leyre Del Rio - Unsplash, Shutterstock, Diane Helentjaris - Unsplash

Plötzlich ist ihm schwindlig. Er muss sich setzen, obwohl er vor lauter Übelkeit am liebsten zum Klo stürzen würde. Ein seltsames Kribbeln überkommt ihn im Nacken, doch am meisten verwirrt Robert Ho Man Kwok dieses Taubheitsgefühl an den Armen. Was ist da los? Der Kinderarzt beschließt, sobald er sich wieder erholt haben wird, einen Brief an seine Kollegen des renommierten „New England Journal of Medicine“ zu schreiben. Mit der einfachen Frage: Warum nur überkommen ihn solche Symptome jedes Mal, nachdem er chinesisch essen war?

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Es gibt mehrere Formen von Glutamat: Die künstliche nennt sich Mononatriumglutamat und wurde unter der englischen Abkürzung MSG berühmt und berüchtigt.

Plötzlich ist ihm schwindlig. Er muss sich setzen, obwohl er vor lauter Übelkeit am liebsten zum Klo stürzen würde. Ein seltsames Kribbeln überkommt ihn im Nacken, doch am meisten verwirrt Robert Ho Man Kwok dieses Taubheitsgefühl an den Armen. Was ist da los? Der Kinderarzt beschließt, sobald er sich wieder erholt haben wird, einen Brief an seine Kollegen des renommierten „New England Journal of Medicine“ zu schreiben. Mit der einfachen Frage: Warum nur überkommen ihn solche Symptome jedes Mal, nachdem er chinesisch essen war?

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Es gibt mehrere Formen von Glutamat: Die künstliche nennt sich Mononatriumglutamat und wurde unter der englischen Abkürzung MSG berühmt und berüchtigt.

Das alles ist 57 Jahre her. Und doch: Kwoks Brief prägt unser aller Geschmacksempfinden bis heute. Warum? Weil das renommierte Medizin-Magazin seinen Beschwerden die Bezeichnung „Chinese Restaurant Syndrome“ verpasste. Und der Überzeugung war: Schuld an diesen Beschwerden ist das Glutamat, genauer: das künstliche Glutamat namens MSG.

Die Abkürzung steht für Mono­natriumglutamat, wurde 1908 vom japanischen Chemiker Kikunae Ikeda erfunden und kommt in der Regel als weißes Pulver zum Einsatz. Als solches sorgt es – nicht nur, aber besonders in der asiatischen Küche – für die typisch vollmundige Würze, die wir heute Umami nennen.

Auch wenn MSG nur eine von mehreren Formen von Glutamat ist: Seit Kwoks Brief gilt Glutamat als die wohl missverstandenste Aminosäure der Welt. Kein Wunder, dass seit einigen Jahren viele namhafte Köche für ihre Rehabilitierung kämpfen. Was also ist Glutamat genau? Und gibt es das „Chinese Restaurant Syndrome“ wirklich?

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Pilze enthalten von Natur aus viel Glutamat, weshalb sie als „Umami-Booster“ wirken und Gerichten eine tiefe, herzhafte Geschmacksfülle verleihen – ganz ohne künstliche Zusätze.

Die drei Formen von Glutamat

Beginnen wir mit den unterschiedlichen Formen von Glutamat. Davon gibt es drei. Die erste ist die natürlichste und verbreitetste – und paradoxerweise die unbekannteste. Es handelt sich dabei um das sogenannte „gebundene Glutamat“.

Um zu verstehen, warum es so heißt, stellt man sich das am besten bildlich vor: Glutamat ist eine Aminosäure. Aminosäuren sind die Bausteine von Eiweiß. Solange Glutamat Teil einer langen Eiweißkette ist, liegt es also gebunden vor. Das bedeutet: Es ist gewissermaßen im Eiweiß versteckt. Deswegen schmeckt man es auch kaum, wie etwa in roher Milch, rohem, ungereiftem Fleisch oder frischen Hülsenfrüchten. Erst wenn Lebensmittel mit gebundenem Glutamat gekocht, gereift oder fermentiert werden, werden die Eiweiße abgebaut – und das Glutamat wird frei.

Die Glutamat-Gerüchteküche

Rund um den Begriff Glutamat ranken sich viele Mythen – etwa die Vorstellung, es existiere nur als künstliches Produkt und sei per se ungesund. Tatsächlich enthalten jedoch erstaunlich viele Lebensmittel natürliches Glutamat – von Rohmilch bis zu Sardellen. Für die Rehabilitation des in Verruf geratenen künstlichen Glutamats, bekannt als MSG, haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche prominente Köche ausgesprochen, darunter David Chang, Anthony Bourdain, The Duc Ngo und Heston Blumenthal.

 

Damit sind wir bei der zweiten Form: dem ungebundenen, sprich: freien Glutamat. Je nach Zubereitung – und vor allem Reifegrad – ist das Umami, das durch freies Glutamat entsteht, hier sofort schmeckbar. Am verständlichsten wird das bei den beiden Vorzeigeprodukten dieser Kategorie, nämlich Tomaten und Parmesan. Je reifer sie sind – man denke an getrocknete Tomaten, die noch dazu in Olivenöl eingelegt wurden –, desto intensiver schmecken sie, weil sie umso umamireicher sind. Und nun zur dritten Form von Glutamat: der künstlichen. Davon gibt es nur eine – und das ist das MSG.

Wobei sich bei näherer Betrachtung tatsächlich die Frage stellt, wie künstlich sie wirklich ist, denn: MSG ist chemisch identisch mit dem Glutamat, das von Natur aus in Lebensmitteln wie Tomaten oder Käse vorkommt. „Deswegen gibt es auch keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Glutamat im Allgemeinen und MSG im Besonderen schlecht für unseren Körper ist, geschweige denn, dass man darauf allergisch sein kann“, sagte David ­Chang schon vor einigen Jahren.

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Tomaten sind reich an ungebundenem Glutamat, das direkt den intensiven Umami-Geschmack entfaltet und sie zu einem natürlichen Geschmacks­verstärker in der Küche macht.

Der Gründer der asiatischen Momofuku-Kette aus den USA gilt, nicht zuletzt durch seine Bekanntheit aus diversen Netflix-Shows und Podcasts, als Aushängeschild einer neuen, selbstbewussten Generation asiatischer Küche. In einer Vielzahl von Publikationen und Interviews machte Chang seither deutlich, dass unser aller Verhältnis zu Glutamat kultureller geprägt ist, als uns bewusst – und wohl auch lieb – ist.

Glutamat in Zeiten von Umami

„Warum wurde MSG in chinesischen Restaurants verteufelt, während es völlig in Ordnung war, wenn es in seiner natürlichen Form in Parmesan vorkam?“, fragte Chang in seinem 2020 erschienenen Buch „Eat a Peach“. Unterstützung in seinem Kampf zur Entstigmatisierung von Glutamat erhielt Chang von vielen Journalisten, Ernährungswissenschaftlern, aber auch vom mittlerweile verstorbenen TV-Star Anthony Bourdain, der auf CNN einmal sagte: „Wissen Sie, was das ‚Chinese Restaurant Syndrome‘ verursacht?“ Und gleich selbst die Antwort gab: „Rassismus“.

Aus europäischer Perspektive mag dieser Diskurs ziemlich amerikanisch anmuten. Seine Extremität ist auch auf die größere Bedeutung asiatischen Essens in den USA zurückzuführen, wo bis heute in vielen chinesischen Restaurants Schilder mit der Aufschrift „NO MSG“ prangen. Und doch: In Zeiten, in denen asiatische Geschmackssphären in unseren Breiten immer größere Bedeutung einnehmen und der Begriff Umami in aller Munde ist, müssen auch wir im deutschsprachigen Raum uns die Frage stellen: Wie halten wir’s mit Glutamat? „In richtigen Dosen eingesetzt, ist Glutamat eine faszinierende Sache, egal in welcher Form“, sagt The Duc Ngo.

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Umami-Welle garantiert: Sardellen enthalten von Natur aus doppelt so viel Glutamat wie Tomaten.

Statt Wein eine Prise MSG

Der Berliner Multigastronom weiß, wovon er spricht: „Ich bin mit südostasiatischer Küche aufgewachsen, dort hat MSG seinen festen Platz“, so der gebürtige Vietnamese, der mit fünf Jahren gemeinsam mit seinen Eltern als Flüchtling nach Deutschland kam. „Heute verwende ich MSG regelmäßig, beispielsweise im Madame Ngo“, so der heute 51-Jährige über eines seiner erfolgreichsten Restaurants in der Kantstraße. Natürlich: Ziel von MSG ist, einer Speise ordentlich Umami-Geschmack zu verleihen.

„Eine kleine Prise reicht.“

Aber eben nicht nur. The Duc Ngo erklärt: „Es kommt auch zum Einsatz, wenn zum Beispiel eine Suppe zu intensiv nach Tier riecht, also alles durch die Knochen und das Fett zu intensiv und eindimensional und deftig wirkt“, sagt Ngo. „In solchen Fällen arbeiten die Franzosen oft mit Wein, weil er durch die Säure dem Ganzen eine bestimmte Frische verleiht, damit wird alles runder. Aber in großen Teilen Asiens, wo Wein nicht als Haushaltslebensmittel verfügbar ist, erreicht man diesen Effekt über Glutamat.“

Als Beispiel nennt Ngo etwa die ­Wan-Tan-Suppe. Sie besteht aus einer klaren Brühe mit Teigtaschen, die mit Fleisch oder Garnelen gefüllt werden. „Pro Schüssel reicht eine kleine Prise MSG völlig aus“, sagt Ngo. Und kommt damit auch auf die betriebswirtschaftliche Dimension des künstlichen Glutamats zu sprechen: „Mit wenig Aufwand kannst du große Wirkung erzielen“, sagt er. „Für das vielschichtige Umami, das du mit der richtigen Menge an MSG in ein Gericht bringst, bräuchtest du mit natürlichem Glutamat erstens viel länger und zweitens wäre der Waren­einsatz auch höher“, erklärt Ngo und nennt das Beispiel des japanischen Dashi.

Die klare japanische Grundbrühe erhält ihr Umami traditionellerweise durch Kombu-Algen und Bonitoflocken, auch Katsuobushi genannt. „Das ist aufwendig und kostspielig, der achtsame Umgang mit MSG hat sich hier über die letzten Jahrzehnte immer wieder bewährt.“

Und was sind seine Erfahrungen mit dem „Chinese Restaurant Syndrome“? Ngo zuckt mit den Schultern. „Ich bin seit 25 Jahren im Geschäft und weiß von keinem einzigen Gast mit solchen Beschwerden. Ich glaube nicht, dass sich dieser Mythos noch lange halten wird.“

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