“Niemand schläft in diesen Tagen gut” – Der kulinarische Botschafter der Ukraine Yurii Kovryzhenko im Interview

Der Spitzenkoch Yurii Kovryzhenko arbeitet seit zehn Jahren mit dem ukrainischen Außenministerium zusammen. Ein Gespräch über den Stellenwert der “Kulinarischen Diplomatie”, die tragische Lage der Ukraine und Köche, die im Krieg zu Helden werden.
März 1, 2022 | Text: Niko Zoltan | Fotos: Kovryzhenko PR

Als Yurii Kovryzhenko die Stadt Kyjiw* am 18. Februar verlassen hat, hatte er das Rückflugticket für den 27. Februar im Gepäck. Er hätte nicht damit gerechnet, dass er nicht zurückkommen würde. Es sollte eine einwöchige Reise nach London werden, um bei Empfängen und Treffen mit Staatsoberhäuptern zu kochen. Alltag für den Gastronomen, der den offiziellen Titel “Ambassador of Taste for the Global Gastronomy” trägt. Zwischen den häufigen Reisen lebt Kovryzhenko in der Ukraine und in Lettland, wo er eine große Restaurantkette und kulinarische Läden leitet.

Doch am 24. Februar um 3 Uhr früh Londoner Zeit begann Kovryzhenkos Telefon zu läuten. Seitdem läutet es ständig. „Wenn das eigene Land sowohl vom Himmel aus als auch von Bodentruppen angegriffen wird, ist es schwer, klare Gedanken zu fassen“, sagt er am Telefon. Trotzdem ist er bereit für ein Gespräch.

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Neben zahlreichen Restaurantprojekten wirbt Yurii Kovryzhenko in Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Außenministerium für die gastronomische Kultur seines Landes

Bis zum letzten Moment dachten wir, der Krieg könnte verhindert werden.

Rolling Pin: Wie haben Sie sich gefühlt, als die Nachricht vom Einmarsch der russischen Truppen kam? Können Sie die Stimmung in der Botschaft in London beschreiben?
Yurii Kovryzhenko: Schock, Verzweiflung, Angst, aber auch Wut. Bis zum letzten Moment dachten wir, der Krieg könnte verhindert werden, wir hofften auf das Beste. Ich plante keine Flucht aus meiner Heimat, ich wollte mich in diesen schwierigen Zeiten nicht irgendwo anders verstecken. Ich kam am 18. Februar zu einem einwöchigen Arbeitsbesuch in London an. Ich arbeite mit dem ukrainischen Außenministerium auf dem Gebiet der kulinarischen Diplomatie zusammen, und wir haben im Dezember eine Veranstaltung in der ukrainischen Botschaft im Vereinigten Königreich geplant.

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Kurz vor dem Einmarsch russischer Truppen verließ Yurii Kovryzhenko die Ukraine – der Rückflug wurde abgesagt

Glauben Sie mir, niemand schläft in diesen Tagen gut.
Seit der Invasion hatte Yurii Kovryzhenko keine ruhige Minute

In der Botschaft herrscht große Besorgnis. Die Mitarbeiter sind echte Patrioten, die sich um ihr Land sorgen, sie alle haben Verwandte in der Ukraine. Aber sie sind nicht nur Menschen, sondern auch echte Fachleute, die sich der Verantwortung bewusst sind, die auf ihnen lastet, und deshalb trotz ihrer Besorgnis einen konstruktiven Arbeitsgeist zeigen. Der Botschafter hat, wie die anderen Mitglieder seines Teams, einen ziemlich harten Arbeitsplan. Glauben Sie mir, niemand schläft in diesen Tagen gut. Der Arbeitstag beginnt um 6:30 Uhr. Die Sicherheit der Ukraine ist unsere oberste Priorität.

Haben Sie erwartet, dass die russischen Aggressionen derart dramatisch eskalieren würden?
K.: Es gab viele Gespräche über mögliche Szenarien, das Informationsfeld wurde mit widersprüchlichen Vorhersagen, Fake News und Gerüchten überschwemmt. In den letzten zwei Monaten lebten wir in ständiger Kriegsgefahr, weigerten uns aber, an schlimmere Szenarien zu glauben. Es war schwer vorstellbar, dass dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit im 21. Jahrhundert in unserer Heimat geschehen könnte.

Sie sind einer der prominentesten Förderer der ukrainischen Küche. Wie hat sie sich verändert, seitdem Sie Koch geworden sind?
K.: Ich wurde zum Förderer der ukrainischen Küche, als ich Chefkoch war. Ich begann diese Reise vor zehn Jahren, als ich ein ukrainisches Restaurant in Tiflis in Georgien eröffnete. In zehn Jahren Partnerschaft mit dem Außenministerium haben wir weltweit 100 Veranstaltungen für eine Million Menschen organisiert.

Wir werden uns des Wertes unserer eigenen gastronomischen Kultur immer mehr bewusst. Immer mehr Köche konzentrieren sich auf das Regionale. Lokalität war einer der wichtigsten Trends, und ich bin sicher, dass er durch diesen Krieg noch verstärkt wird.

Kochen für Länderverständigung

Worin besteht Kulinarische Diplomatie?
K.: Ich sehe Marie-Antoine Carême, der für den berühmten Staatsmann Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord gekocht hat, als den Begründer der “Kulinarischen Diplomatie”. Nach seinem Vorbild will ich die internationale Sprache der Kulinarik nutzen, um für ukrainische Kultur zu werben. Ich nehme an internationalen Gipfeltreffen und Kongressen teil, organisiere Pop-up-Dinner mit Spitzenköchen, offizielle Empfänge in ukrainischen Botschaften und Abendessen für Staatsoberhäupter.

Die Küche ist eine der Sprachen, mit denen sich Länder und Nationen ausdrücken.

Wie würden Sie die kulinarische Szene in der Ukraine heute beschreiben?
K.: Die kulinarische Szene hat vor der Corona-Krise und vor der Invasion geblüht. Sie hat sich in den letzten Jahren rasch entwickelt. Regelmäßig werden neue Restaurants eröffnet und neue Projekte auf den Weg gebracht, die Landwirtschaft entwickelt sich, es gibt ein dichtes Programm an gastronomischen Veranstaltungen, internationalen Konferenzen und Festivals. Die Ukrainer, die in die Großstädte fahren, werden mit einem vielseitigen Angebot verwöhnt, der Service ist tadellos, die Qualität der Speisen außergewöhnlich. Die Trends waren sehr vielversprechend.

Wie wichtig ist eine nationale Küche für die Identität und Einheit eines Landes?
K.: Die Menschen sind durch Werte und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verbunden – das nennt man Identität, und das Essen ist eine ihrer Erscheinungsformen. Die nationale Küche ist ein Teil des kulturellen Codes, der die Identität eines Landes prägt. Die nationale Küche wurde über Jahrhunderte hinweg geformt, sie ist ein Spiegel der Geschichte.

Bei jedem diplomatischen Dinner oder Lunch in der ganzen Welt mache ich Borschtsch. Dabei versuche ich immer, Zutaten der jeweiligen Regionen zu verwenden. Dabei entsteht natürlich immer eine neue Version des Gerichts. Meine Idee ist es, ukrainische Küche für die Menschen anderer Länder zu übersetzen. Die Küche ist eine der Sprachen, mit denen sich Länder und Nationen ausdrücken.

Viele meiner Freunde haben Waffen aufgenommen, die von der Regierung verteilt wurden.

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Yurii Kovryzhenkos Gerichte tragen nicht zufällig die Handschrift eines Bildhauers und sind eng mit der kulinarischen Geschichte der Ukraine verbunden

Stehen Sie in Kontakt mit Köchen, die sich derzeit in der Ukraine aufhalten?
K.: Keiner, von dem ich weiß, ist aus dem Land geflohen. Diejenigen Ukrainer, die vor dem Kriegsbeginn die Ukraine verlassen haben und im Ausland festsitzen, tun alles, um ihren Landsleuten an der Heimatfront zu helfen: Vom Sammeln von Hilfsgütern bis zur Kommunikation mit der Weltgemeinschaft. Die Gastronomen in der Ukraine haben zwar ihre Restaurants geschlossen, nutzen aber ihre Küchen für die Versorgung der Streitkräfte und der Familien, die in Schutzräumen verweilen. Wir sind in dieser schweren Situation vereint. Viele meiner Freunde haben Waffen aufgenommen, die von der Regierung verteilt wurden. Chemiestudenten der Universität in Kyjiw haben begonnen, in den Laboren Molotov-Cocktails herzustellen.

Wie unterscheidet sich ukrainische Küche von der russischen?
K.: Das kulinarische Erbe der Ukraine wurde von Russland angeeignet. Als Ergebnis dieses jahrzehntelangen Raubes wird die heutige Welt in die Irre geführt, man findet die Namen auf den Speisekarten oder in den Regalen: Russischer Borschtsch und russischer Honigkuchen – das ist nicht wahr! Die sowjetische Regierung löschte die nationale Identität der Republiken aus, auch auf der Ebene der Gastronomie, und wandte einen Einheitsansatz nach dem Motto “one size fits all” an.

Viele Rezepte gingen verloren, gerieten in Vergessenheit und wurden verdreht. Die ukrainischen Köche müssen die verlorenen Rezepte wieder aufleben lassen und die historische Wahrheit wiederherstellen. Die Ukraine verfügt über eine reiche, tausendjährige gastronomische Kultur aus der Zeit der Kyjiwer Rus. Als Koch bin ich dafür verantwortlich, in der Sprache der kulinarischen Diplomatie für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Yurii Kovryzhenko

Yurii Kovryzhenko ist ursprünglich Bildhauer und Miniaturist. Als Kellner begann er seine Karriere im Gastgewerbe. Er studierte an den besten europäischen Kochschulen: Le Cordon Bleu (Paris), Ferrandi (Paris), Basque Culinary Center (San Sebastian), zwei italienischen Schulen IFSE (Piemont, Turin) und der International Academy of Italian Cuisine (Toskana, Lukmanien), wo er sich mit der Slow-Food-Philosophie vertraut machte.

2012 eröffnete er das ukrainische Restaurant Kobzar in Georgien, wo er zwei Jahre lang Chefkoch war. Ab 2014 war er fünf Jahre lang Chefkoch des Gourmetrestaurants Vintage Noveau in Lwiw. Neben zahlreichen internationalen Tätigkeiten als Gastronom arbeitet er als Kulinarischer Diplomat eng mit der ukrainischen Regierung zusammen.

instagram.com/yurii_kovryzhenko

 

*Mit Blick auf ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion bevorzugt die Ukraine die auf den ukrainischen Namen der Stadt zurückgehende Schreibweise „Kyjiw“, die in diesem Artikel anstatt der im Deutschen etablierten Schreibweise “Kiew” verwendet wird.

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