Dr. Badass: Making Wine Great Again – Teil 2

Dr. Badass und Top-Sommelier aus dem 2-Sterne-Restaurant Tantris Justin Leone: Die Rolling Pin-Sprechstunde über Wein, Weib und andere Unwägbarkeiten des Lebens in der Gastronomie.
April 6, 2017 | Fotos: Mike Krueger

Dr. Badass und Tantris-Sommelier: Justin Leone

Fakten, Fakten, Fakten

Was sind Fakten eigentlich? Wie beginnen wir, dieses riesige Spektrum an Qualität, Herkunft und Sinnhaftigkeit zu kategorisieren? Ist Schwefel erlaubt und, wenn ja, wie viel davon?

Unterm Strich ist Schwefel eher ein Exorzist, der Bakterienbefall und frühzeitige Oxidation des unfermentierten Traubensafts verhindert – nicht zu vergessen: Er sorgt auch für Stabilität beim Transport.

Auch wenn Schwefel zweifelsfrei eine natürliche Substanz ist, wird er oft verschmäht. Auf einer Website ist überhaupt zu lesen: „Wir meiden die Verwendung von Schwefel, weil es die Oxidation mindert und antiseptische Eigenschaften vorweist.“

Absolut richtig – Gesundheit und Hygiene gemeinsam klingt nach einer furchtbaren Vorstellung. Das Resultat: ein Wein, der den Unerbittlichkeiten des Transports trotzt und in perfektem Zustand vor die Haustüre geliefert wird.

Was zur Hölle haben sich diese Leute eigentlich gedacht, bevor ihr dahergekommen seid? Dieser Louis Pasteur war ein Fanatiker. Man hätte ihn am Scheiterhaufen verbrennen sollen, als man die Chance dazu hatte.

Ich sag euch was: Das nächste Mal, wenn euch eine grauenhafte Bakterieninfektion heimsucht, ihr gerade ein Körperteil beim Holzhacken verloren habt oder in einen schrecklichen Unfall verwickelt wart, hoffe ich, dass ihr in das neue „Natural Krankenhaus“ eingeliefert werdet, wo Antiseptika durch natürlichen Schlamm ausgetauscht wurden, Beatmungsgeräte braune Papiertaschen und Antibiotika nichts anderes als ein Glas Kombucha sind. Man munkelt auch, dass Sulfate nur dazu dienen, um das Haltbarkeitsdatum zu verlängern.

Ranzige Pilze, altes Brot und Nagellack

Ich sehe das eher so, dass man dem Leben eine Chance gibt. Was kann der Retter der Welt ausrichten, wenn er gerade erst geboren wird? Wie ein großartiger Wein, der kurz nach der Geburt schon auf halbem Weg zum Leichenschauhaus ist.

Ich war einmal auf einer Sommelier-Konferenz im österreichischen Lech, auf der ein bekannter skandinavischer Sommelier über Natural Wine und die berühmte nordische Küche, mit der er arbeitete, gesprochen hat.

Er war so unglaublich stolz zu verkünden, dass nicht nur sein Jura-Wein natural war, sondern auch die Transportmethode, mit der er ihn verschifft hatte. Die Flaschen wurden drei Monate lang auf einem Segelschiff nach Kopenhagen geliefert.

Die Frage, woher eigentlich die Power für die Temperaturregulierung im Frachtraum des Segelschiffs kam, ignorierte er gekonnt. Selbstverständlich war der Wein absolut widerlich, müffelte nach Pferdestall, Schweiß, altem Brot und ranzigen Pilzen mit einer Prise Nagellack und Bakterien.

Aber hey, es war so cool. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht verstanden. Ich hätte mich allerdings trotzdem über eine Antwort gefreut. Bekommen hab ich sie nie. Und das scheint bedenklich üblich in dieser Bewegung zu sein.

Nach Hunderten, wenn nicht Tausenden Jahren des Weinmachens, Beobachtens, Dokumentierens haben wir viel darüber gelernt, was einen Wein groß, einzigartig und einfach zum Genuss macht. Anscheinend finden wir es derzeit gerade „cool“, all das zu vergessen und wieder bei null zu beginnen.

Alles, was recht ist

Ganz ehrlich, ich bin der Letzte, der industrielle Massenproduktionen von Weinen voll mit Chemikalien, die von Weinbaugebieten kommen, die einer postnuklearen Apokalypse gleichen, verteidigt.

Und den charakterlosen Saft, der durch intrigante Manipulation zur Parker-Punkte-Perfektion gezaubert wird. Wie auch immer. Abertausende wunderschöne, gesunde und wichtige Weine werden mit der gleichen Liebe, Hingabe und Philosophie gemacht wie jene, die von diesen ökofanatischen Knuspermüslifressern gepriesen werden.

Aber viele dieser „Natural-Winzer“ sind Start-ups, die immer noch experimentieren und lernen, während andere unter dem ständigen Druck stehen, ihre Produkte so schnell wie möglich zu verkaufen.

Dieser Wein wird förmlich voroxidiert in die Flasche gedrängt. Viele dieser Tropfen sind so rustikal, dass Zucker und lebende Hefe immer noch koexistieren und förmlich nach einer zweiten Fermentation schreien.
Die Kombination mit einer unglaublich heißen und wilden Fermentation ohne die Hilfe von Kühlungs-Coils in Fässern oder Trockeneis in Boxen ist der perfekte Nährboden für volatile Säure.

Der gleiche Nenner

Ein viel zu häufiger gleicher Nenner für diese Weine. Und wenn dieses Experiment einmal schiefgeht, kann der Winzer nicht einfach den Verlust eines gesamten Jahrgangs hinnehmen – die Show muss weitergehen.

Also werden ein cleverer Name und ein Label erfunden und der Wein als „Vin de France“ verkauft – ohne Regulierung ist beinah alles möglich. Auch wenn der Wein in Sancerre gemacht wird und aussieht, riecht und schmeckt wie Basque Cider.

Natural Wine zu machen, bedeutet, sein Weingut mit chirurgischer Präzision zu führen und sauberer als einen OP-Raum zu halten. Viel zu viele Winzer sind damit beschäftigt, ihre Ziele ohne große Interventionen zu erreichen, was sie blind dafür werden lässt, was auf ihrem Weingut in puncto Bakterien oder ungewünschter Hefen wie Brettanomyces eigentlich abgeht.

Da sollte man sich schon fragen, ob das der richtige Weg ist. Und selbst wenn alles gut geht, können rohe unraffinierte Trauben-Proteine in der Flasche herumschwimmen, die am Gaumen einen hefigen, brotähnlichen Geschmack verursachen und gleichzeitig einen Eindruck von Uniformität unter vielen Natural-Weinen erwecken – egal welchen Ursprungs oder welcher Sorte.

Und vielleicht würde diese Bewegung auch mehr Zuspruch von den „konventionellen Cowboys“ erhalten, wenn ein wenig mehr Konsequenz hinter ihrem Anspruch stehen würde. Oder zumindest ein bisschen weniger von dem alternativen Gehabe und ein wenig mehr Fokus auf den nackten Tatsachen läge.

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